Der Geschmack von Apfelkernen

Der Geschmack von Apfelkernen

ROMAN

Kiepenheuer & Witsch 2008
256 Seiten, gebunden
ISBN: 978-3-462-03970-2

Taschenbuch (August 2009)
ISBN-10: 3462041495
ISBN-13: 978-3462041491

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Klappentext

Ein Buch über die Liebe, den Tod und das Vergessen

Schillernd und magisch sind die Erinnerungen an die Sommerferien bei der Großmutter, geheimnisvoll die Geschichten der Tanten. Katharina Hagena erzählt von den Frauen einer Familie, mischt die Schicksale dreier Generationen. Ein Roman über das Erinnern und das Vergessen – bewegend, herrlich komisch und klug. Als Bertha stirbt, erbt Iris das Haus. Nach vielen Jahren steht Iris wieder im alten Haus der Großmutter, wo sie als Kind in den Sommerferien mit ihrer Kusine Verkleiden spielte. Sie streift durch die Zimmer und den Garten, eine aus der Zeit gefallene Welt, in der rote Johannisbeeren über Nacht weiß und als konservierte Tränen eingekocht werden, in der ein Baum gleich zweimal blüht, Dörfer verschwinden und Frauen aus ihren Fingern Funken schütteln. Doch der Garten ist inzwischen verwildert. Nachdem Bertha vom Apfelbaum gefallen war, wurde sie erst zerstreut, dann vergesslich, und schließlich erkannte sie nichts mehr wieder, nicht einmal ihre drei Töchter. Iris bleibt eine Woche allein im Haus. Sie weiß nicht, ob sie es überhaupt behalten will. Sie schwimmt in einem schwarzen See, bekommt Besuch, küsst den Bruder einer früheren Freundin und streicht eine Wand an. Während sie von Zimmer zu Zimmer läuft, tastet sie sich durch ihre eigenen Erinnerungen und ihr eigenes Vergessen: Was tat ihr Großvater wirklich, bevor er in den Krieg ging? Welche Männer liebten Berthas Töchter? Wer aß seinen Apfel mitsamt den Kernen? Schließlich gelangt Iris zu jener Nacht, in der ihre Kusine Rosmarie den schrecklichen Unfall hatte: Was machte Rosmarie auf dem Dach des Wintergartens? Und was wollte sie Iris noch sagen? Iris ahnt, dass es verschiedene Spielarten des Vergessens gibt. Und das Erinnern ist nur eine davon.

Interview mit Katharina Hagena

Schillernd und magisch sind die Erinnerungen an die Sommerferien bei der Großmutter, geheimnisvoll sind die Geschichten der Tanten…
Katharina Hagena erzählt in ihrem Debütroman Der Geschmack von Apfelkernen, der dieses Jahr zum sensationellen Bestselller wurde, von den Frauen einer Familie und mischt die Schicksale dreier Generationen.
Im Interview erläutert sie, welche Rolle der Garten in ihrem Roman spielt, wie Erinnern und Vergessen mit dem Erzählen zusammenhängen, und wie der Buchtitel Der Geschmack von Apfelkernen zustande kam:

Im Mittelpunkt Ihres Romans Der Geschmack von Apfelkernen steht die Alzheimer-Erkrankung der Großmutter. Eine Krankheit, die man nicht aufhalten kann. Kann man gegen das Vergessen anschreiben?
Katharina Hagena: Nein, nicht gegen diese Form des Vergessens, sie sperrt sich gegen jegliches Konservieren. Ich kann mir jedoch das Vergessen – und vor allem die Angst davor – für eine Weile schreibend vom Leib halten. Gerade die Auseinandersetzung mit dem Vergessen ist das, was der Alzheimer-Patient selbst nicht mehr vermag, vielleicht musste ich es in meinem Roman stellvertretend tun. Andererseits ist Alzheimer eine Krankheit, die ganz viel mit Sprache zu tun hat, mit Sprachlosigkeit (aller Beteiligten), mit Sprachverwirrung (hören die Dinge auf zu sein, wenn es kein Wort mehr dafür gibt? Zum Beispiel »Tochter«?), ja auch mit Sprachschöpfung, einer makabren Poesie von Ersatzwörtern. Für mich ist der Weg einer Erzählung die einzig mögliche Auseinandersetzung mit diesem Thema, und die einzig erträgliche.

Wenn wir erzählen, erinnern wir uns. Erzählen und Erinnern gehören zusammen. Aber wie erzählt man vom Vergessen? Wie verhält sich Erzählen und Vergessen zueinander?
Katharina Hagena: Das Vergessen verhält sich zum Erinnern wie das Schweigen zum Wort, wie die Pause zum Ton. Das eine geht nicht ohne das andere. Erst das Vergessen – und die Möglichkeit dazu – macht eine zurückliegende Erfahrung zur Erinnerung.

In welcher Landschaft spielt der Roman?
Katharina Hagena: In der Geestlandschaft um Bremerhaven herum. Mit Kuhweiden, Weißdornhecken und einem wilden, schweren Himmel.

Natur erfahren, d.h. auch sinnlich erleben ist ein zentrales Motiv des Romans. Wollten Sie der Natur eine Sprache geben?
Katharina Hagena: Nein, natürlich lese ich nicht im Buch der Natur, wie es noch der Spätmystiker Jakob Böhme tat, der kurz in meinem Buch auftaucht. Ich halte es da eher mit Adorno: »Erscheinende Natur will Schweigen«, sagt er, »während es jenen, der ihrer Erfahrung fähig ist, zum Wort drängt«. Die Natur spielt eine Rolle in meinem Buch, sie ist Projektionsfläche, sie agiert selbst, und sie reagiert auf die Gefühle der handelnden und gerade auch der handlungsunfähigen Personen.

Welche Rolle spielen das Haus und der Garten?
Katharina Hagena: Ach, das Haus: Das gibt es, das gab es. Es taucht immer wieder nachts in meinen Träumen auf, an den unterschiedlichsten Orten und mit den unterschiedlichsten Menschen darin. Meine Erinnerungen an dieses Haus wollte ich in meinem Buch dokumentieren, die Personen darin sind hingegen ausgedacht. Für Gärten habe ich mich jedoch nie besonders interessiert. Gerade die Beerenernte zu Hause fand ich unfassbar öde. Als ich irgendwann selbst einen Garten hatte, merkte ich plötzlich, dass ich ein Menge Pflanzenkundliches aus Versehen absorbiert hatte. Erstaunlicherweise kannte ich das ganze Grünzeug mit Namen! Und zu fast jeder Blume gab es irgendwo in meinem Hirn Geschichten, Liedfetzen oder Gedichtzeilen: Astern, schwälende Tage; lösch die Lupinen; Narzissen und die Tulipan. Ich musste an Ophelias wilden Blumenschmuck denken, an dieses Moly-Kraut mit dem Odysseus Schweine zurück in Menschen verwandelt, Syrinx und Pan. Oder mir fielen irgendwelche banalen Familiengeschichten ein, also zum Beispiel, dass die Lieblingsblume meiner Großmutter das Geißblatt war und die meines Opas Kapuzinerkresse, und dass mein Onkel als Kind die braunen, wolligen Rohrkolbenblüten (heißen die wirklich Brummpesel?) wie Zigarren geraucht hat. Und schließlich gibt es Blumennamen, zu denen einem selbst sofort ganz viele Geschichten einfallen: Tränendes Herz, Rittersporn, Schleierkraut. Garten ist für mich untrennbar mit Dichtung verbunden. Der Umkehrschluss gilt aber nicht.

Es ist an einer Stelle vom Heimweh der Mutter nach dem kühlen Norden die Rede. Heimweh nach dem Norden statt Sehnsucht nach dem Süden?
Katharina Hagena: Das Heimweh nach dem Norden ist schwermütiger als die Sehnsucht nach dem Land, wo die Zitronen blühn. Hier oben weht »kein sanfter Wind vom blauen Himmel«, hier hört man höchstens sowas wie »des gärenden Schlammes geheimnisvollen Ton, einsames Vogelrufen – so war es immer schon«. Aber Heimweh kann man sich nun mal nicht aussuchen – im Gegensatz zu Fernweh.

Erklären Sie den Titel »Der Geschmack von Apfelkernen«
Katharina Hagena: Nun, er spielt zum einen auf eine bestimmte Stelle im Buch an, wo Apfelkerne tatsächlich verspeist werden. Zum anderen ist der Apfel natürlich eines der ältesten literarischen Bilder unserer Kultur, ein Symbol für Verführung, Liebe, Schönheit, Macht, Erkenntnis, Schuld. Und der Kern ist einerseits die Essenz all dessen, andererseits bitter, ungenießbar und geformt wie eine Träne. Die Apfelgeschichten reichen von Adam und Eva, über das Urteil des Paris bis hin zum vergifteten Apfel, der Schneewittchen von ihrer Stiefmutter gereicht wird. Persephone isst Apfelkerne in der Unterwelt – vom Granatapfel zwar, aber immerhin – und muss deshalb immer wieder dorthin zurück. Das Bittermandelaroma des Apfelkerns fasziniert mich, am meisten jedoch dies: Die Blausäure ist nicht im Kern enthalten, sie wird erst nach Verzehr des Kerns im Körper des Essenden gebildet. Genauso funktionieren letztlich Bücher: Der Wirkstoff ist nicht im Text, sondern entfaltet sich in Kopf und Körper des Lesenden erst durch die Lektüre.

Wir haben über das Haus, über Äpfel, die Natur gesprochen? Was hat es mit dem Fallen auf sich, wenn in ihrem Buch die Menschen in Ohnmacht oder von Bäumen fallen?
Katharina Hagena: Das Fallen gehört zu Baumstämmen wie zu Stammbäumen (Newtons Entdeckung der Schwerkraft ist eine Apfelgeschichte). In einem Roman, der sich mit dem Erinnern und Vergessen beschäftigt, spielt das Entfallen eine entscheidende Rolle ebenso wie das Auffallen und Gefallen; Unfall und Zufall ebenso wie der Verfall. Manches muss erst stürzen, bevor es ins Rollen kommen kann.

Man begegnet in Der Geschmack von Apfelkernen ganz unterschiedlichen Lebensgeschichten und Lebensentwürfen von Frauen. War Ihnen dies von Anfang an wichtig?
Katharina Hagena: Anderes war mir zunächst wichtiger. Bei den Personen interessierten mich vor allem die Konstellationen, die drei Schwestern, drei Freundinnen, Dreiecks-Verwicklungen verschiedener Art mit Spannungen und Allianzen, mit Macht und Machtspielchen. Die Geschichten kamen zum Großteil erst beim Schreiben.

Ein zentraler Satz ihres Buches besagt, dass womöglich das gemeinsame Vergessen ein stärkeres Band sein kann, als die geteilten Erinnerungen. Das dürfte manchen Leser verwundern. Wie ist es zu verstehen?
Katharina Hagena: Genau so!

Der Roman verlässt von Zeit zu Zeit die Realität und es geschehen wundersame Dinge, wie wir es aus Erzählungen des magischen Realismus kennen. Verlassen wir also beim Erinnern den Boden der Tatsachen?
Katharina Hagena: Na klar, schon in der Selektion liegt der erste Schritt in die Fiktion. Warum also so tun, als dokumentiere man etwas? In der bewussten literarischen Verarbeitung – oder Deutung – liegt für mich mehr Wahrheit als in Berichten über sogenannte »wahre Begebenheiten«. Die Geschichten, die das Leben schrieb, müssen doch nicht notwendigerweise auch passiert sein. Und magische, surreale und phantastische Begebenheiten müssen nicht realitätsfern sein. Die scharfe Trennung zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, zwischen Traum, Erinnerung und dem, was wir Wirklichkeit nennen, betrachte ich eher als Hilfskonstrukt – ähnlich den Atommodellen in der modernen Physik. Sie sind nützlich, aber noch nicht der Weisheit letzter Schluss.

Gibt es eine andere literarische Tradition – neben dem magischen Realismus – auf die Sie sich stützen?
Katharina Hagena: Die verdichtete Sprache der Lyrik hat sicher Einfluss auf meinen Stil, jedenfalls würde ich es begrüßen, wenn es so wäre. Und ich rede mir ein, die langjährige Beschäftigung mit Joyce – und durch Joyce natürlich auch mit Homer – habe mein Sprachbewusstsein auch etwas geschärft. Die englische Romantradition ist mir oft näher als die deutsche. Das ist sicher berufsbedingt. Dennoch: ich stehe gleichermaßen bewundernd vor dem brillant konstruierten Roman Tom Jones wie vor Die Elixiere des Teufels. Vielleicht sollte ich die überhaupt mal wieder lesen!

 

Die Fragen stellte Birgit Schmitz, Verlag Kiepenheuer & Witsch
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Übersetzungen

Presse

08 Mär 2010
Das Besondere

"Es liegt an Hagenas Gabe, aus dem Bitteren das Besondere zu machen, dass man sofort jeden einzelnen dieser tränenreichen Sommer kosten will."

Brigitte / 08.03.2010
08 Mär 2010
Erinnern und Vergessen

"Katharina Hagenas Roman ist eine einfühlsame Familiengeschichte ohne Klischees und voller Gegenwart. Ein Buch über das Erinnern und Vergessen."

Stern / 08.03.2010
18 Feb 2010
L'histoire dans les pommes

"Sous le charme de la comédie se laisse deviner une vérité obstinément dérobée au langage, que tout à la fois le récit feint d'ignorer et dont il reçoit tout son sens." lesen...

Le Nouvel Observateur / 18.02.2010
07 Jan 2010
Critique

"La romancière construit un récit d'une parfaite unité." lesen...

Le Monde / 07.01.2010
20 Jun 2009
Von schlafenden Dingen

Von schlafenden Dingen "Von Katharina Hagenas erstem Roman geht eine eigenartige Sogwirkung aus - nicht nur wegen der Rätsel und mysteriösen Begebenheiten in Iris' Familie, sondern weil die Autorin in ihrer funkelnden Sprache so präzis zu erzählen versteht." lesen...

Andrea Lüthi, NZZ / 20.06.2009
17 Jun 2008
Wenn die Bäume zweimal blühen

Wenn die Bäume zweimal blühen "Mit Der Geschmack von Apfelkernen ist ihr ein tolles Debüt gelungen." lesen...

Christoph Haas, Süddeutsche Zeitung / 17.06.2008
17 Apr 2008
Inventur des Lebens

Inventur des Lebens "Es duftet nach Sommer, nach Äpfeln und Johannisbeeren. Der Geschmack von Apfelkernen ist süß und zugleich bitter. Es ist ein trauriges, aber tröstliches Buch der Erinnerung geworden." lesen...

Martina Meister, Die Zeit / 17.04.2008
12 Apr 2008
Drum lasst uns ein Apfelbuch lesen

Drum lasst uns ein Apfelbuch lesen "Erzählt wird von Liebe, Tod, Ferien, unehelichen Kindern, Pubertätsnöten, dunklen Geheimnissen und Apfelbäumen, kurz: von allem, was das Leben ausmacht. Die Sprache des Romans ist schön klar und der leicht ironische Unterton der Ich-Erzählerin gelungen." lesen...

Anne Nordmann, taz / 12.04.2008
08 Mär 2008
Melancholy Novel

'This melancholy novel about lifting the layers of history is packed with gorgeous imagery and undertones of buried secrets... Sultry, tragic and intensely atmospheric.’

The Times / 08.03.2008
08 Mär 2008
Ein Genuss

"Der Geschmack von Apfelkernen ist ein Genuss."

Martin Walser /08.03.2008

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